Von Dennis Schneider (Text)
Lyon spielt wieder die alte Rolle der Kulisse – nur dass diesmal keine römischen Legionäre auftreten, sondern elektrische Kastenwagen. Zwischen Rhône und Saône, dort, wo Lugdunum entsteht – der Name bedeutet «Festung des Gottes Lug» oder schlicht «Hügel des Lug», eine Mischung aus keltischem Kult und römischer Stadtgründung –, drängen sich heute Fachbesucher durch die Hallen der Solutrans. Seit 1988 trifft sich hier alle zwei Jahre die Nutzfahrzeugbranche, Carrosseriebauer, Ausrüster, Logistiker. Draussen stehen Altstadt und Seidenvergangenheit, drinnen Kabelbäume, Software-Stacks und Ladeleistungen.
Mitten in diesem Tech-Gewimmel schiebt Renault seinen neuen Prototyp ins Licht: den Trafic Van E-Tech electric. Er gibt auf der Solutrans 2025 in Lyon sein Seriendebüt und markiert den Start einer neuen Familie von zu 100 Prozent elektrischen Nutzfahrzeugen. Der Kastenwagen basiert auf einer vollelektrischen Skateboard-Plattform – einem Aufbau, bei dem Batterie, Motor und zentrale Technik flach im Unterboden sitzen, sodass darüber maximale Freiheit für Carrosserie und Umbauten entsteht. Der Antrieb wandert nach hinten, der vordere Überhang schrumpft. Der Wendekreis liegt bei 10,3 Metern, also Clio-Niveau. Die Botschaft ist klar: Stadtverkehr ja, Rangieren in engen Höfen auch.
Der Van steht auf der neuen SDV-Architektur, dem «Software Defined Vehicle», wie es in den Unterlagen heisst. Die Elektrik und Elektronik des Fahrzeugs hängt nicht länger an vielen einzelnen Steuergeräten, sondern an einer zentralisierten Software-Struktur, die sich «über die gesamte Lebensdauer aktualisieren» lässt – ähnlich wie beim Smartphone. Möglich macht das das Betriebssystem «CAR OS» auf Basis von Android Automotive. Apps, Funktionen, Personalisierungen: Alles kommt over the air, alles bleibt veränderbar.
Dazu kommt erstmals bei Renault eine 800-Volt-Technik zum Einsatz. Sie soll es ermöglichen, die Batterie an einer DC-Schnellladesäule in rund 20 Minuten von 15 auf 80 Prozent zu bringen. Renault spricht dabei von bis zu 260 Kilometern zusätzlicher Reichweite in diesem Fenster. Je nach Einsatzbereich stehen zwei Batteriechemien zur Verfügung: eine NMC-Batterie (Nickel-Mangan-Kobalt) mit rund 450 Kilometern WLTP-Reichweite für Langstrecke und Mischprofil, sowie eine LFP-Batterie (Lithium-Eisenphosphat) mit etwa 350 Kilometern für Kunden, die überwiegend im urbanen Umfeld unterwegs sind – dafür «zu einem äusserst wettbewerbsfähigen Preis». Die Zellen stammen aus Europa, die Batterien werden im Werk Sandouville (Region Normandie, Frankreich) montiert.
Unter dem Fahrerhaus arbeitet ein neu entwickelter Elektromotor, der 150 kW und 345 Nm liefert. Laut Datenblatt zieht der Trafic E-Tech electric bis zu zwei Tonnen Anhängelast und trägt eine Nutzlast von rund 1,25 Tonnen, die Homologation steht noch aus. Für den Aufbau-Alltag bedeutet das: Reichweitenversprechen hin oder her – der Van bleibt ein Nutzfahrzeug, das Last sehen soll, nicht nur Ladesäulen.
Die Abmessungen sortieren ihn sauber ins Segment der mittelgrossen Transporter. Als Kastenwagen L1 misst er 4,87 Meter in der Länge und bietet 5,1 m³ Ladevolumen, als L2 sind es 5,27 Meter und 5,8 m³. Die Höhe bleibt mit 1,90 Meter bewusst knapp unter der Tiefgaragen-Grenze. Seitliche Schiebetüren und grosse Hecktüren geben die Ladeöffnung für Europaletten frei. Auch hier zeigt sich, dass der Entwurf mit städtischen Lieferprofilen im Hinterkopf entsteht – vom Altstadtbetrieb bis zur Anlieferzone unter dem Einkaufszentrum.
Optisch versucht der Trafic E-Tech electric den Spagat zwischen Werkzeug und Showcar. Eine One-Box-Silhouette, ein durchgehendes Leuchtenband mit hinterleuchtetem Logo, eine neue Lichtsignatur vorn und – erstmals bei einem Renault-Transporter – auch am Heck. Grosse Flächen tragen Wagenfarbe, andere Bereiche bleiben bewusst in schwarzem, genarbtem Kunststoff, teilweise mit dem typischen Lasermuster, das Renault bereits beim Scenic E-Tech einführt. Der vordere Stossfänger wirkt wie eine robuste Schürze, die die alltäglichen Blessuren des Handwerkerlebens einkalkuliert, ohne die Designlinie zu sprengen.
Innen zieht sich eine breite, röhrenförmige Armaturentafel über die gesamte Kabinenbreite. Dahinter ein Materialmix inklusive Naturfaser-Polypropylen (NFPP), der den Nachhaltigkeitsanspruch sichtbar machen soll. Vor dem Fahrer liegt ein 10-Zoll-Kombiinstrument, in der Mitte steht ein 12-Zoll-Touchscreen, klar zum Fahrersitz hin ausgerichtet. Stoffe in Grau und Jeansblau, gelbe und weisse Nähte – das Cockpit will robust sein, ohne nach Plastikbunker zu aussehen. Der Stauraum ist ein eigenes Kapitel: geschlossenes Handschuhfach, offene Fächer, Becherhalter, Türablagen, ein tiefes Ablagefach unter der «Röhre» und eine grosse, von aussen sichtbare Ablagefläche unter der Frontscheibe für Laptop, Jacke oder Unterlagen.
Bei der Materialbilanz nennt Renault einen Zielwert von über 23 Prozent recycelter Materialien bezogen auf das Gesamtfahrzeug inklusive Batterie. Der Anteil recycelter Kunststoffe soll bei über 15 Prozent liegen, das entspricht mehr als 40 Kilogramm pro Fahrzeug. Die Sitzpolsterung besteht zu 50 Prozent aus recyceltem «Twi-Jeans»-Stoff. Die Marke verweist in diesem Zusammenhang darauf, beim Rezyklatanteil «weit über dem Marktdurchschnitt» zu liegen und ordnet den Trafic in die Konzernstrategie ein, bis 2030 auf 33 Prozent recycelte Materialien zu kommen.
Die digitale Ebene zieht sich durch das gesamte Fahrzeugkonzept. Das neue OpenR-Multimediasystem mit 12-Zoll-Bildschirm ist speziell für leichte Nutzfahrzeuge angepasst. Die Navigation berücksichtigt Fahrzeugabmessungen und Beladung, um «ungeeignete Routen zu vermeiden» und kalkuliert Ladestopps anhand realistischer Verbräuche. Google-Dienste wie Assistant und Play sind integriert; die Liste der Apps reicht je nach Markt von Browsern wie Vivaldi über Park- und Bezahlservices wie EasyPark bis zu Musikdiensten. In einem späteren Update soll der Sprachassistent Google Gemini den bisherigen Assistant ersetzen und – so die Formulierung – «ein echter dialogorientierter KI-Assistent» werden.
Dazu kommen V2X-Funktionen: Vehicle-to-Load (V2L) versorgt Werkzeuge, Rechner oder andere Verbraucher direkt aus der Traktionsbatterie, über Steckdosen in Kabine und Laderaum oder über einen Adapter am Ladeanschluss. Vehicle-to-Grid (V2G) speist Energie wieder ins Netz ein, gesteuert über das bidirektionale Ladegerät. In den Unterlagen ist von neuen Geschäftsmodellen die Rede, die so entstehen können – je nach Markt, regulatorischem Rahmen und Tarifstruktur.
Flottenkunden zielt Renault direkt an, wenn es um Wartung und Verfügbarkeit geht. Die SDV-Architektur soll eine deutlich präzisere vorausschauende Wartung erlauben. Sensoren überwachen Bauteile in Echtzeit, Fehler lassen sich per Ferndiagnose eingrenzen, Werkstattaufenthalte planen. Ein «Safety Coach» wertet Fahrdaten wie Geschwindigkeit, Spurtreue oder Abstände aus, vergibt am Ende der Fahrt einen «Safety Score» bis 100 Punkte und gibt Empfehlungen. Parallel zeigt ein «Safety Monitor» Hinweise in Echtzeit an. Die My-Renault-App übernimmt bekannte Funktionen wie Ladeplanung, Vorkonditionierung, Reichweitenkontrolle, Fahrzeugortung oder Türverriegelungs-Check.
Produziert wird der neue Trafic Van E-Tech electric im Werk Sandouville, auf derselben Linie wie der konventionelle Trafic mit Verbrenner, der im Programm bleibt. In einem separaten Gebäude entstehen Carrosserien für Qstomize, die Konzerntochter für Umbauten und Anpassungen. Fahrgestell, Fahrerhaus, Pritsche, Kipper, Ladefläche oder Cargo Box: Die Varianten laufen nahe an der Basisfertigung, was kurze Durchlaufzeiten und kontrollierte Kosten sichern soll. Ergänzt wird das Werk durch ein Netzwerk von mehr als 300 Carrosseriebauern, die mit dem Hersteller zusammenarbeiten und «eine unendliche Anzahl von Umbaulösungen» anbieten.
Während in Lyon der neue E-Trafic noch als Ankündigung steht – Marktstart ist für Ende 2026 geplant –, fährt der grössere Master bereits mit frischem Lorbeer: Er trägt den Titel «International Van of the Year 2025», verliehen 2024. Der alte Lastenträger mit Multi-Energie-Ansatz im Rücken, der neue, rein elektrische Mittelklässler vor der Brust: Renault spannt das Nutzfahrzeugprogramm sichtbar um.
Die Bühne dafür ist eine Stadt, die seit über 2000 Jahren vom Verkehr lebt – damals Marschrouten und Flusskähne, heute Lieferwagen, E-Transporter und Software-Definiertheit. Lyon bleibt Knotenpunkt, die Solutrans die passende Projektionsfläche. Der Trafic Van E-Tech electric fährt hier nicht als Heilsbringer vor, sondern als Versuchsanordnung: Was passiert, wenn man den klassischen Kastenwagen ernsthaft elektrifiziert und ihm gleichzeitig ein Betriebssystem verpasst? Die nächsten Jahre auf der Strasse werden zeigen, wie viel von diesem Konzept im Alltag übrig bleibt.