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Starthilfe – VW erinnert an britische Treuhänderschaft

 

Vor 75 Jahren, ab dem 5. Juni 1945, treten die Briten in ihre Besatzungszone ein und lösen dort US-Truppen ab. Die britische Militärregierung übernimmt in Wolfsburg die Treuhänderschaft über die Volkswagenwerk GmbH. Damit beginnt eine einzigartige Nachkriegsgeschichte. Schlüsselfigur ist der 28-jährige Major Ivan Hirst. Mit Improvisationsvermögen, Organisationstalent und Weitsicht formt er den zu grossen Teilen zerstörten und zur Demontage vorgesehenen Rüstungsbetrieb zu einer zivilen Fahrzeugfabrik. Die Briten stellen so die Weichen für den späteren Erfolg des Käfers und legen das Fundament für den VW-Konzern von heute. VW würdigt die Zeit der Briten mit dem Dokumentarfilm «Meine Aufgabe war klar», in dem Ivan Hirst über seine Zeit bei Volkswagen erzählt.

 

Dokumentarfilm «Meine Aufgabe war klar»
Den 75. Jahrestag der Übernahme der britischen Treuhänderschaft nimmt «Volkswagen Heritage» nun zum Anlass, den halbstündigen Dokufilm für Bildungs-, Forschungs- und Medienarbeit auf YouTube zu veröffentlichen. Fünf Episoden dokumentieren die Umbruchphase von VW nach dem Zweiten Weltkrieg. In einem seiner letzten Interviews erzählt Hirst von der britischen Treuhänderschaft über das Wolfsburger Unternehmen von 1945 bis 1949. Das Interview entstand im Herbst 1999, genau 50 Jahre nach der Rückgabe der «Volkswagenwerk GmbH» in deutsche Verantwortung.

 

«Anfangs», so beginnt Ivan Hirst seine Story, «war meine Aufgabe klar: Gehe nach Wolfsburg, finde die Fabrik und besetzte sie. Man sagte mir nicht einmal, dass es Volkswagen war.» Im August 1945 trifft der Major in Wolfsburg ein und nimmt gut vier Jahre später, im August 1949, zufrieden Abschied. «Wir hatten eine moderne Fabrik, bereit für die Zukunft – mit einer Belegschaft, einem deutschen Management und einem guten Produkt», resümiert Hirst. «Und nach der Währungsreform 1948 ging es los: Volkswagen startet in die Welt.»

 

Besatzung und Übernahme der Treuhänderschaft
Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs verliert die Volkswagenwerk GmbH ihre Eigentümerin, denn die NS-Organisation Deutsche Arbeitsfront existiert nicht mehr. Das Werk, von den Nationalsozialisten als Vorzeigefabrik für den Bau des KdF-Wagens konzipiert, fertigte während des Zweiten Weltkriegs mit rund 20 000 Zwangsarbeitern militärische Güter. Als ehemalige Rüstungsfabrik ist das Werk nach dem Kriegsende zur Demontage vorgesehen. Doch zunächst richten die Amerikaner nach der Befreiung im Werk eine Reparaturwerkstatt ein. Als die Briten im Juni 1945 in ihre Besatzungszone eintreten und Treuhänder der Volkswagenwerk GmbH werden, schicken sie den 28-jährigen Major Ivan Hirst nach Wolfsburg. Er übernimmt als «Senior Resident Officer» die Verantwortung und erkennt schnell, dass die Fabrik weit mehr bietet als Werkhallen für eine Reparaturwerkstatt. Ein grosser Teil der für die zivile Fertigung vorgesehenen Maschinen und Werkzeuge war während des Kriegs ausgelagert und wird zurückgeholt. Die Schäden an den Hallen sind erheblich, aber reparabel und eine zivile Fertigung der VW-Limousine erscheint möglich. Die Wirtschaft in Deutschland liegt brach. Es herrschen Armut und Versorgungsmangel, Verkehrswege sind zerstört und Transportmittel fehlen. Hirst erkennt, dass eine wirtschaftliche Automobilfertigung helfen würde, Transportengpässe der britischen Armee zu lösen. Mit der Zeit zeigt sich auch, dass diese Lösung im Einklang mit der britischen Deutschlandpolitik steht, die materielle Sicherheit und Zukunftsperspektive für die deutsche Bevölkerung als wesentliche Bausteine für den Aufbau demokratischer Strukturen versteht.

 

Grossauftrag mit Schonfrist
Colonel Michael McEvoy, der Vorgesetzte von Ivan Hirst, unterstützt die Aufnahme der zivilen Fertigung in Wolfsburg. McEvoy hatte die VW-Limousine bereits 1939 auf der Internationalen Automobilausstellung in Berlin gesehen. Um die britische Militärregierung zu überzeugen, präsentiert er im Hauptquartier ein Fahrzeug, das Hirst zuvor auf dem Werksgelände gefunden und khakifarben lackiert hatte. Am 22. August 1945 erteilt die Militärregierung den Auftrag über 20 000 Fahrzeuge für die britische Militärverwaltung, zwei Wochen später folgt ein zweiter Auftrag für weitere 20 000 Fahrzeuge. Dies bedeutet für die zur Demontage vorgesehene Fabrik eine Schonfrist von vier Jahren. Bereits am 27. Dezember 1945 verlässt das erste zivile Fahrzeug das Werk. Aber die Zukunft des Unternehmens bleibt ungewiss und der Weg zu einer stabilen Fertigung ist mit vielen Herausforderungen verbunden.

 

Aufbau und Neustart
Die Fabrik muss zuerst instandgesetzt werden, ein Prozess, der auch nach Aufnahme der Fertigung kontinuierlich fortgesetzt wird. Material und Rohstoffe wie Stahl, Batterien, Textilien und Glas, sind im Nachkriegs-Deutschland knapp. Hirst bekommt sie mit Verhandlungsgeschick von der britischen Militärverwaltung zugeteilt. Knapp, aber genug, um die Fertigung auf ein Monatssoll von 1000 Fahrzeugen zu bringen. Das VW-Werk hat nur eine kleine Stammbelegschaft, die Rekrutierung von Arbeitskräften ist deshalb eine weitere Herausforderung. Hirst ist pragmatisch und bietet auch deutschen Kriegsgefangenen Arbeitsplätze an. Die Versorgung der Arbeiter bleibt während der ersten Jahre schwierig. Hirst improvisiert und beschafft unter anderem über Kontakte dringend benötigte Lebensmittel. Im Oktober 1945 formiert sich der erste frei gewählte Betriebsrat – für die Briten ein wichtiger Schritt zur Demokratisierung.

 

Zukunftsweisende Strukturen
Die Entnazifizierung führt zur Entlassung des bisherigen Werkleiters, der Jurist Dr. Herrmann Münch löst ihn im Juni 1946 ab. Als Generaldirektor treibt er zusammen mit einem kaufmännischen und einem technischen Direktor die Fertigung weiter voran. Nach diesen organisatorischen Neuerungen verbessern die Briten die Qualität der Fahrzeuge und der Fertigungsabläufe, schulen Mitarbeiter im Kundendienst und beginnen mit dem Aufbau einer Handelsorganisation. Damit sind sie so erfolgreich, dass VW im Oktober 1947 mit dem Export beginnt. 1948 verlassen 19 000 Fahrzeuge die Fabrik, davon sind rund ein Viertel für den Export bestimmt. Parallel beginnt die Produktion von Ersatzteilen für das wachsende Servicenetz.

 

Die guten Zukunftsperspektiven veranlassen die Treuhänder, das Management einem Experten zu übertragen und das Unternehmen in deutsche Verantwortung zu geben. Am 1. Januar 1948 beginnt Heinrich Nordhoff als Generaldirektor der Volkswagenwerk GmbH. Drei Jahre nach Ende des Krieges hat sich das Volkswagenwerk von einer Rüstungsruine zur Automobilfabrik mit 8700 Beschäftigten entwickelt. Die Arbeits- und Lebensbedingungen in Wolfsburg verbessern sich zusehends, aber in Deutschland ist die Lage noch immer von Mangel geprägt. Die entscheidende Wende kommt am 20. Juni 1948 mit der Währungsreform, die in den drei westlichen Besatzungszonen einen Wirtschaftsboom auslöst und auch VW Schub verleiht. Für Ivan Hirst läuft alles in die richtige Richtung. Am 8. Oktober 1949 überträgt die britische Militärregierung die Treuhänderschaft für die Volkswagenwerk GmbH in deutsche Verantwortung.

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