Oldtimer

69 Stunden für 939 Kilometer – unterwegs im Benz Victoria

 

Fernreisen mit dem Auto sind Alltag. Sie überwinden Grenzen und eröffnen Möglichkeiten. Vor 125 Jahren und damit in den Frühtagen dieser neuen Form der Mobilität ist es aber eine Pioniertat, als Baron Theodor von Liebieg mit seinem Benz Victoria von Reichenberg in Böhmen nach Gondorf an der Mosel reist. Sieben Tage dauert die automobile Fernfahrt, vom 16. bis 22. Juli 1894. Inklusive der Ausfahrten an der Mosel und der Rückreise legen von Liebieg und sein Begleiter Franz Stransky in jenem Sommer sogar rund 2500 Kilometer zurück.

 

In jeder Langstreckenfahrt mit einem Mercedes-Benz klingt das Echo der Fernreise des Baron Theodor von Liebieg hat 1894 vorgemacht, was seit Mitte des 20. Jahrhunderts Alltag ist: Mit dem Automobil zu reisen, ob auf Ferienfahrt oder Geschäftsreise. Diese Kultur führt Menschen über Ländergrenzen hinweg, schafft neue Möglichkeiten und öffnet Verbindungen.

 

Ob er dem Grossherzog von Baden den neuen Benz quasi vor der Nase weggeschnappt hat? Von Carl Benz persönlich jedenfalls bekommt der junge Industrielle Theodor von Liebieg versichert: «Sie haben früher bestellt, sie werden auch früher beliefert.» Die Szene spielt sich im Oktober 1893 ab. Benz – festlich gekleidet in Frack und Zylinder – wartet auf den Besuch des Landesherrn. Der Grossherzog möchte das erste Benz-Automobil mit Achsschenkellenkung in Augenschein nehmen.

 

Da erscheint plötzlich der 21 Jahre junge Fabrikantensohn aus Böhmen. Mit Fragen löchert er Carl Benz und bittet um eine Probefahrt. Eine Spritztour wird gewährt – der Überlieferung nach kurz vor der Ankunft des Grossherzogs. Gleich im Anschluss bestellt von Liebieg ein Fahrzeug des neuen Typs und macht eine Anzahlung von 1500 Mark. Das ist nahezu ein Drittel des Gesamtpreises. Das Fahrzeug wird im nächsten Frühjahr mit der Eisenbahn nach Böhmen gebracht und von Benz-Fahrmeister Thum an den Kunden ausgeliefert. Liebiegs Victoria trägt die Fabriknummer 76. Als Antrieb dient ein drei PS starker Einzylindermotor.

 

Der Baron hat sich ein grosses Ziel gesetzt: Mit diesem Auto will er im Sommer 1894 Carl Benz besuchen und von Mannheim aus weiter an die Mosel fahren, zum Wohnort seiner Mutter in Gondorf. Eine solche Reise sei «schon seit Gymnasiastentagen mein Ideal gewesen», erinnert er sich in der illustrierten Chronik der Fernreise. Nach Probefahrten sind von Liebieg und sein Freund, der Arzt Franz Stransky, zuversichtlich: Das Auto wird trotz schlechter Strassen, der schwierigen Versorgung mit Treibstoff und dem hohen Verbrauch an Kühlwasser die Fernfahrt zuverlässig bewältigen.

 

Frühmorgens am 16. Juli 1894 geht es los, über Bautzen und Dresden erreichen die beiden Reisenden Waldheim. Am nächsten Tag geht die Etappe bis Eisenberg, am 18. Juli über Jena, Weimar, Erfurt und Gotha bis nach Eisenach. Darauf folgt eine Fahrt über zwei Tage ohne Übernachtung, bei der unter anderem Fulda, Offenbach, Frankfurt und Darmstadt durchquert werden. Das Ziel nach 26 Fahrstunden ist Mannheim, wo man Carl Benz besucht. An den zwei weiteren Tagen geht es den Rhein entlang nach Norden und schliesslich am 22. Juli die Mosel hinauf nach Gondorf – das Abenteuer ist geglückt.

 

Für die 939 Kilometer lange Strecke brauchen von Liebieg und Stransky 69 Stunden. Das sind im Schnitt 13,6 km/h. Getankt wird an Apotheken oder Drogerien. Schon Bertha Benz hat sich auf ihrer Fahrt im August 1888 von Mannheim nach Pforzheim in einer Apotheke mit Ligroin als Treibstoff versorgt. Der Benz Victoria verbraucht etwa 21 Liter Benzin auf 100 Kilometer. Exorbitant höher ist der Bedarf an Kühlwasser, weil der Motor mit einer offenen Verdampfungskühlung ausgestattet ist, die auf 100 Kilometer bis zu 150 Liter Wasser benötigt. Erst Erfindungen der Folgejahre, allen voran die von Wilhelm Maybach erdachten Kühler, senken den Wasserbedarf erheblich.

 

In Gondorf bleibt Liebieg vier Wochen lang und unternimmt in dieser Zeit Ausfahrten bis nach Frankreich. Im August tritt er mit Stransky die Rückreise an. Diesmal macht das Duo in Mannheim länger Station, um den Victoria bei Benz & Cie. einer gründlichen Werkswartung unterziehen zu lassen. Bei der Abholung ist Liebieg begeistert: «Herr Benz hatte sein Versprechen pünktlich gehalten und fix und fertig, kaum zum Wiedererkennen, fanden wir unseren geliebten Wagen.» Familie Benz begleitet den Baron und seinen Freund bei der Abfahrt bis nach Gernsheim. Der Victoria spult auf dieser Fernreise rund 2500 Kilometer bis zur Rückkehr nach Reichenberg ab.

 

Carl Benz weiss die Begeisterung und Leidenschaft des jungen Barons zu schätzen. Er erinnert sich fast 30 Jahre später so an den Kunden: «Mein Viktoriawagen und der Baron – das waren Freunde, die einander verstanden und aufeinander abgestimmt waren wie zwei Stimmgabeln. Auf weiten Reisen haben diese beiden Freunde ihren Viktoriaruf hinausgeknattert in die aufhorchende Welt und trugen sehr viel zur Popularisierung des Kraftwagens bei.»

 

Theodor von Liebieg unternimmt 1895 eine zweite Fernreise mit dem Victoria. Er tritt für Benz auch bei Automobilwettfahrten an. Durch diese Aktivitäten wird er zum Botschafter fürs Auto. Unter anderem gewinnt er 1899 beim ersten Österreichischen Internationalen Rennen in Wien den ersten Preis des Wiener Automobilclubs auf einem Benz 8 PS. Später ist Liebieg als Teilhaber der Nesselsdorfer Wagenbau-Fabriks-Gesellschaft selbst Automobilproduzent: Aus dem Unternehmen geht 1923 nach einer Fusion mit Ringhoffer die Marke Tatra hervor. Doch Liebieg bleibt als Kunde dem Unternehmen Benz & Cie. treu – auch nach dem Zusammenschluss mit der Daimler-Motoren-Gesellschaft: Das letzte Automobil des 1939 verstorbenen Industriellen ist ein exklusives Mercedes-Benz 540 K Cabriolet A (siehe Fotogalerie).

 

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